Säugen und Entwöhnung – mehr als Nahrungs-Umstellung
Warum zeigen handaufgezogene Welpen häufiger Verhaltensauffälligkeiten?
Weil die Keimzelle emotionaler Stabilität beim Hund mit geschlossenen Augen, warm eingekuschelt an der Zitze entsteht.
Als Nesthocker kommen Hundewelpen neurologisch unterausgestattet, aber mit maximaler Neuroplastizität zur Welt. Das Säugen liefert nicht nur Nährstoffe, sondern durch verlässliche Dosis biochemischer Beruhigung das emotionale Pendant zu Noise-cancelling-Kopfhörern. Ständig neue Eindrücke würden überfordern und hyperreaktive Welpen „produzieren“.
Die Prozesse des Säugens und Entwöhnens sind zwar nicht alleinverantwortlich für die spätere emotionale Ausprägung, doch sie legen zentrale Grundlagen für Stressverarbeitung, soziale Regulation und Bindungsverhalten.
Der neurochemische Signature-Cocktail des Säugens
Das Saugen an der Zitze aktiviert ein fein abgestimmtes Zusammenspiel aus Hormonen und Neurotransmittern, das Sicherheit vermittelt und emotionale Grundlagen schafft.
Oxytocin – Nähe macht Neurochemie: Oxytocin wird bei Welpe und Hündin ausgeschüttet – das stärkt Bindung und stabilisiert Fürsorgeverhalten. Spannend: Oxytocin beeinflusst über epigenetische Mechanismen auch die Empfindlichkeit von Rezeptorsystemen, insbesondere im limbischen System und damit langfristg emotionale Reaktivität.
Dog Appeasing Pheromone – chemisches Sicherheitsversprechen – werden aus der Gesäuge-Gegend freigesetzt und erreichen über das vomeronasale Organ limbische Strukturen, wo sie beruhigend wirken.
α-Casozepin – Milch mit GABA-Effekt – entfaltet über GABA-A-Rezeptoren angstlösende Effekte. Welpen erhalten beim Trinken eine natürliche Dosis emotionaler Entspannung.
Endorphine – körpereigene Kuschelchemie – werden beim Saugen ausgeschüttet und verstärken das Verhalten positiv.
Und: Die Kombination aus taktiler Stimulation, oraler Aktivität und hormoneller Rückmeldung erzeugt einen Zustand tiefer Entspannung – auch wichtig als „Lernpause“ für die Verarbeitung neuer Reize.

Die Mutterhündin als regulierende Lerninstanz
In den ersten Lebenswochen ist die Mutterhündin das sozioemotionale Koordinatensystem des Welpen. Sie reguliert aktiv die physiologische und emotionale Homöostase.
Mit zunehmendem Alter ändert sich diese Dynamik: Nach wenigen Wochen machen Milchzähne das Saugen schmerzhaft und Limits von Seiten der Mutter wahrscheinlicher. Nähe wird weniger automatisch gewährt, Distanzphasen nehmen zu, der Kontakt wird selektiver. Die Beziehung bricht nicht ab – sie verändert ihre Spielregeln.
Die Mutter wird zur Instanz mit sozialen Bedingungen. Sie reagiert situationsabhängig, schränkt Zugang ein, setzt Grenzen. Der Welpe muss Frustration ertragen, Nähe aushandeln, sich selbst beruhigen.

Die Umstellung von Milch auf feste Nahrung ist weit mehr als ein neues Menü auf dem Tisch.
Alles läuft nach Plan und parallel entwickelt sich Frustratinostoleranz und Kommunikation. Dazwischen sorgt ein Cocktail für die notwendige Entspannung. Wie geht es nach der Adoption bei Dir weiter? In den nächsten Monaten passiert noch viel im Gehirn der jungen Welpen….
Entwöhnung als erstes Trainingslager für Frustrations-Toleranz
Aus hormoneller Glückseligkeit wird erste Frustration. So beginnt die Ausbildung von Resilienz und Impulskontrolle – gestützt von endogenen Opioiden und DAP, die das System nicht kollabieren lassen.
Wenn die Hündin sich abwendet, den Nachwuchs von den Zitzen drängt und eventuell auch „wegschnappt“, geht es um das erste große „Nein“ im Leben des Hundes. Dieser Prozess beginnt parallel zum Durchbruch der Milchzähne sehr langsam ab der 3.-4. Lebenswoche und erreicht um die 6.-7. Woche klare Dynamik.
Die Lektion: Nicht jede Bedürfnisäußerung ist erfolgreich. Auch erleben Welpen zeitgleich die Eskalationsstufen sozial kommunizierter Konflikte: Körperabwendung, Drohfixieren, Knurren, Fletschen, Abschnappen.
Sie lernen hierbei nicht nur auf erste Eskalationsstufen artspezifischer Kommunikation richtig zu reagieren, sondern entwickeln durch die Phase der Entwöhnung auch Frustrationstoleranz, Impulskontrolle und soziale Anpassungsfähigkeit.
Wir können diesen fein abgestimmten Prozess des Abstillens nicht imitieren, wenn wir einen Welpen ,mit der Hand aufziehen Der biochemische Cocktail und die intensive Kommunikation mit der Mutter sind wichtig für die Entwicklung
SIRIUS Behvior Vets
Klinische Implikationen bei Handaufzucht & gestörter Entwöhnung
Diese natürlichen Abläufe sind nicht einfach zu imitieren: Welpen aus Handaufzuchten oder bei zu früher Trennung verpassen den gesamten sozial-regulatorischen Rahmen, in dem Nähe begrenzt und Frustration in verdaulichen Dosen angeboten wird. Was hier fehlt, ist nicht nur die neurochemische Stabilisierung durch Oxytocin, DAP und α-Casozepin, sondern auch die allmähliche Konditionierung auf soziale Signale und das emotionale Lernen von Frustrationstoleranz und Selbstregulation.
Neurobiologische Grundlagen der Störung: Ohne die mütterliche Co-Regulation entwickelt sich das Stresssystem unter chronisch erhöhten Belastungsbedingungen. Dies führt zu einer erhöhten Reaktivität der Amygdala auf Stressreize und einer verminderten regulatorischen Kontrolle durch präfrontale Strukturen. Die normalerweise entstehende funktionelle Konnektivität zwischen Amygdala und präfrontalem Kortex, die für emotionale Regulation essentiell ist, wird unzureichend ausgebildet.
Zudem fehlt die epigenetische Prägung stabiler Oxytocinrezeptor-Expression, was langfristig den Bindungsstil beeinträchtigen kann.
Typische klinische Bilder:
- Reduzierte Frustrationstoleranz
- Dysfunktionale Bindungsmuster (Exzessives Aufmerksamkeitssuchen oder vermeidendes Bindungsverhalten)
- Defizite in der Affektregulation (Verlängerte Erholungszeiten nach Stressoren)
- Taktile Hypersensitivität und Körperkontaktstörungen (Überreaktionen z.B. auf Handling, Untersuchung, Geschirr)
Diese Tiere sind nicht „verzogen“ – sie haben ein komplex aufeinander abgestimmtes emotionales „Basistraining“ verpasst.

Das Knurren und Wegschnappen gehört zum Lern-Prozess.
Therapeutische Ansätze:
Die Kompensation ist nicht zu 100% möglich, da nicht nur die Neuroplastizität, sondern auch die darauf abgestimmte emotionale Entwicklung der Welpen einem sehr feinen Woche-für-Woche abgestimmtem Prozess unterliegt. Verhaltenstherapeutisch können Interventionen entwickelt werden. Dies kann auch durch spezialisierte Tierärzt:Innen oder unter Assistenz einer Coaching-TFA durchgeführt werden. Der Einsatz von SSRI kann nach verhaltensmedizinischer Anamnese den therapeutischen Prozess unterstützen.
- Frustrationstoleranz erhöhen: Kontrollierte Situationen & Training, in denen der Hund lernt, dass Bedürfnisse zeitverzögert, aber verlässlich erfüllt werden.
- Aufbau von Selbstregulation: Training zur Impulskontrolle mit positiver Verstärkung, um präfrontale Kontrollfunktionen zu stärken.
- Systematic Touch Desensitization / Consent-basiertes Handling / Medical Training
Prognose: Bei früher Intervention (vor dem 6. Lebensmonat) sind deutliche Verbesserungen möglich. Auch später lohnt sich das Therapie-Training, braucht aber deutlich länger.
Fazit
Säugen und Entwöhnen sind emotionale Weichenstellungen, die Bindung, Stressverarbeitung und soziale Kompetenz nachhaltig prägen. Wo diese Phase gelingt, entsteht emotionale Stabilität. Wo sie – auch durch eine Mastitis der Hündin – gestört wird, bleibt ein Entwicklungsschritt offen, der später nur mühsam kompensierbar ist.
Auch eine gelungene frühe Regulation entscheidet oft darüber, ob ein Hund emotional stabil, sozial anschlussfähig und stressresistent aufwächst.