Darf ein Hund Hund sein? Nur lesen, wenn Du Deinen Hund liebst

Inhaltsüberblick

Darf ein Hund Hund sein?

Du kennst das bestimmt: Ein flauschiger Welpe im Tierheim oder beim Züchter schaut Dich mit seinen großen Knopfaugen an und – zack – ist es um Dich geschehen. Das Herz schmilzt schneller als ein Pistazieneis in der Sommersonne.

Aber – wie immer – jetzt kommt die nicht so gute Nachricht: Was Du da gerade als niedliches Kuscheltier wahrnimmst, ist in Wirklichkeit ein Nachfahre des Wolfes. Ein Stück kontrollierte Wildnis sozusagen, das sich seit Jahrtausenden dazu entschieden hat, mit uns zusammenzuleben. 98,8% genetische Übereinstimmung zwischen einem Pomeranian Spitz oder einem Aussi und seinem Vorfahren, dies Information lässt manchen Hundehalter aufwachen.

 

Emotionale Verwirrung und Kindchenschema

„Ach, ist der süüüüß!“ Diesen Satz hören frischgebackene Hundeeltern ungefähr 753 Mal in der ersten Woche. Und genau hier beginnt das Problem: Unser Gehirn spielt uns einen Streich. Die großen Augen, die tollpatschigen Bewegungen, die weiche Schnauze – all das triggert in uns dasselbe Beschützer-Schema wie ein Menschenbaby.

Und was machen wir? Wir rennen los und kaufen das komplette Baby-Erstausstattungs-Programm für Hunde: Das kuscheligste Körbchen, die den Designer-Napf, ein tolles Brustgeschirr und die passende Leine.

Aber während wir uns vom Welpen-Merchandise-Wahn mitreißen lassen, vergessen wir das Wichtigste: Uns darüber zu informieren, was dieses „Stück Wildnis“ eigentlich wirklich braucht.

Tierärztin für Verhaltenstherapie Dr. Astrid Schubert

Die Eidechsen-Paradoxie

Stell Dir vor, Du möchtest Dir einen Leguan zulegen. Was machst Du? Richtig – Du recherchierst wie ein Wissenschaftler vor seiner Doktorarbeit: Temperatur, Luftfeuchtigkeit, UV-Licht, Bodengrund, Ernährung… Keine Information ist zu klein, kein Forum zu speziell.

Aber beim Hund? „Ach, der lebt ja mit uns. Wir buchen eine Hundeschule. Da lernen wir alle, was wichtig ist!“ Kein Tier wurde länger domestiziert. Kein Tier ist anpassungsfähiger. Können wir mit einem Minipig oder einer Katze ins Restaurant oder in die Stadt? Besuchen wir mit dem Papagei die Verwandtschaft oder treiben wir mit dem Zwerghasen oder einer Ziege gemeinsam Sport?

Weil der Hund so anpassungsfähig ist und sich seit Jahrtausenden perfekt in unsere Kultur integriert hat, glauben wir, er bräuchte keine speziellen Bedingungen. Ein fataler Irrtum!

Deinen Hund wirklich verstehen

Sprache verstehen – die Basis jeder Kommunikation. Was weißt Du noch nicht?

Die „Konrad-Lorenz-Amnesie“

Der berühmte Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat seine eigenen Hunde nicht nur geliebt, sondern vor allem studiert. Er hat verstanden, dass Hunde eigene Entwicklungsphasen, soziale Strukturen und Bedürfnisse haben.

Jeder Hundehalter sollte seine „Konrad-Lorenz-Identität“ in sich entdecken und seinem Caniden, seinem Hund ein Leben in einem Rudel und nicht in einer Familie schenken.

Ja, wir dürfen unseren Hunden gegenüber fühlen, wie eine Hundemama (oder -Papa), aber wir dürfen uns nicht die ganze Zeit so verhalten.

Wenn wir das tun,
wenn wir verhandeln, anstatt souverän und entspannt die Führung zu übernehmen,
wenn wir verbal diskutieren, anstatt mit Körpersprache klar zu kommunizieren, wenn wir uns manipulieren lassen, anstatt die Ressourcen zu kontrollieren, kurz: wenn wir nicht auf Hundeart Leadership leben (wichtig: ohne deshalb laut oder körperlich zu werden!!) dann haben wir die Verantwortung für unseren Hund noch nicht ganz übernommen.

Ich kann meinen Hund lieben wie ein Kind, aber ich muss mich ihm gegenüber verhalten wie ein Hund. Er spricht nur Hund und wünscht sich ein sicheres Rudel. Keine Familie.

Soll sich der Hund in seinem Verhalten ändern, muss sich erst der Mensch verändern.

Das „Elite-Kindergarten-Syndrom“

Die Vermenschlichung geht in Teilen weit über Glitzerleinen und teure Leckerlies, (die man in Gold aufwiegen könnte) hinaus.

Einige Menschen sehen den Hund als Erweiterung Ihrer Persönlichkeit. Was gibt es denn besseres, als sich die Intelligenz oder die Optik seines vierbeinigen Kindes durch die Wahl der Rasse aussuchen zu können? Also werden besonders intelligente Hunde, wie ein Aussi oder besonders ästhetische Hunde wie ein Vizla gekauft. Unter der Woche sollen sie dann bitte ruhig neben dem Schreibtisch liegen, aber am Wochenende haben wir dann Zeit für lange Wanderungen, denn „wir sind ja so gerne draußen“.

Dann wundert man sich über den Junghund, der nur noch Blödsinn macht und seine Impulse nicht unter Kontrolle hat.

Ehrgeizige Persönlichkeiten unter den Haltern scheuen zu versagen, also wird gearbeitet und korrigiert „bis der Arzt kommt“. Den eigenen Lebensstil der angeschafften Rasse anzupassen – auf diese Idee kommen nicht alle.

Viel hilft nicht viel

Welche Erwartungshaltung steht oft dahinter: „Wenn ich mir 200% Mühe gebe und viel erziehe, wird der Hund super!“ Die jungen Hunde müssen funktionieren. Perfekt funktionieren. Wie ein Schweizer Uhrwerk mit Fell. Dass dabei oft die individuellen Bedürfnisse und Entwicklungsphasen des Hundes auf der Strecke bleiben? Geschenkt!

Bumerang Tipps vom Hundetrainer

Großartig auch die Ratschläge von Hundetrainern, die dann mit dem sehr impulsiven und hyperreaktiven Hund „konfrontiert“ werden und als – aktuell sehr modernes Generalrezept – erst mal deutlich weniger Auslauf verordnen, weil der Hund ja so überfordert ist…  Das scheint anfangs tatsächlich zu wirken und wird dann ein Bumerang. Nicht selten wird danach ein Trainer mit weniger artgerechten Erziehungsmethoden ausgesucht, weil „dieser Hund so schwierig ist“. Ein trauriger, leider viel zu oft beobachteter Teufelskreis beginnt…

Warum dieses Beispiel? Weil viele unserer verhaltensmedizinischen Patienten genau diese oder eine sehr ähnliche Vorgeschichte haben. Am Schluss landen sie in der verhaltenstherapeutischen Sprechstunde eines Fachtierarztes mit psychosomatischen Störungen, weil der Druck der sogenannten „Trainings-Maßnahmen“ oder die nicht artgerechte Haltung sie schlicht krank gemacht hat.

Die Wahrheit liegt immer in der Natur.

Die Psychologie hinter unserem Verhalten

Bevor wir jetzt in Selbstgeißelung verfallen – niemand von uns macht das bewusst falsch. Die Natur hat uns Menschen mit einem feinen Gespür für „niedliche“ Merkmale ausgestattet. Große Augen, rundliche Formen, tollpatschige Bewegungen – all das löst in uns automatisch Beschützerinstinkte aus.

Das ist auch gut so! Diese Mechanismen haben dafür gesorgt, dass wir als Spezies überlebt haben. Problematisch wird es erst, wenn wir diese natürlichen Impulse nicht reflektieren.

Der innere Dialog: Zwischen Herz und Verstand

Hand aufs Herz: Wer von uns hat nicht schon mal…

  • dem Welpen heimlich am Tisch gefüttert?
  • sich vom Vierbeiner nach Strich und Faden manipulieren lassen?
  • Im Vorbeigehen den schlafenden Hund nicht nicht knuddeln können?

Das ist völlig normal! Diese Tendenzen haben wir alle in uns. Der entscheidende Unterschied liegt darin, ob wir sie erkennen und bewusst damit umgehen.

Die Balance finden: Zwischen Liebe und Verantwortung

Und jetzt kommt die gute Nachricht: Du darfst Deinen Hund verwöhnen! Du darfst Dir zehn verschiedene Leinen kaufen, niedliche Halstücher sammeln und Dich am Anblick Deines schlafenden Vierbeiners erfreuen. Das macht Dich nicht zu einem schlechten Hundehalter.

ABER – und dieses „Aber“ ist wichtig – Du hast auch eine Verantwortung. Eine Verantwortung, die über das Kuscheln auf der Couch hinausgeht.

Der Bildungsauftrag an uns selbst

Diese Verantwortung bedeutet nicht, dass Du ein zweiter Verhaltensforscher werden musst. Du musst keine wissenschaftlichen Abhandlungen über Caniden lesen oder die Evolution des Wolfes zum Haushund auswendig lernen.

Was Du aber tun musst:

  • Die grundlegenden Entwicklungsphasen Deines Hundes kennen
  • Seine artspezifischen Bedürfnisse verstehen
  • Dich über typische Verhaltensweisen informieren
  • Lernen, seine Signale zu lesen (WIRKLICH zu verstehen)

 

Der kritische Blick in den Spiegel

Oft erwischen wir uns dabei, wie wir

  • uns von unseren menschlichen Gefühlen mehr leiten lassen als von den Bedürfnissen des Hundes.
  • Alles viel zu schnell wollen – obwohl die Adoleszenz doch 3 Jahre dauert – und damit den jungen Hund überfordern.
  • Unser eigenes Leben nicht ändern, und den Hund dort hineinpressen möchten, weil wir uns vorab nicht ehrlich über die Rasse oder das Leben mit Hund informiert haben oder einfach nur ein Exemplar in die Hundewiege gelegt bekamen, was nicht so ist wie der Hund, mit dem wir früher mal aufgewachsen sind.

Das ist keine Schande – solange wir es erkennen und gegensteuern.

Die goldene Mitte

Ein artgerechter Umgang mit unserem Hund bedeutet nicht, dass wir unsere menschlichen Bedürfnisse komplett ignorieren müssen. Im Gegenteil: Die Freude an unserem Vierbeiner, die Lust am Spielen und am Kuscheln– all das darf sein.

Die Kunst liegt darin, beides zu vereinen: Unsere menschliche Natur mit ihren emotionalen Bedürfnissen UND die Verantwortung gegenüber einem Lebewesen, das sich uns anvertraut hat.

Der Weg zum bewussten Hundehalter

Dieser Weg beginnt mit Selbstreflexion:

  • Wo stehe ich gerade in meiner Beziehung zum Hund?
  • Welche meiner Verhaltensweisen sind mehr an meinen Bedürfnissen orientiert als an seinen?
  • Was weiß ich eigentlich über die aktuelle Entwicklungsphase meines Hundes?
  • Wo könnte ich noch dazulernen?

 

 

Das Beste aus beiden Welten

Ein Hund bereichert unser Leben auf vielfältige Weise. Er darf uns zum Lachen bringen, uns trösten und ja – er darf auch mal niedlich aussehen im neuen Halstuch.

Aber er braucht von uns mehr als nur Liebe. Er braucht Menschen, die bereit sind, ihn als das zu sehen was er ist: Ein faszinierendes Wesen mit eigenen Bedürfnissen, das unsere Zeit, unser Verständnis und artgerechte Haltung braucht.

Die wahre Kunst der Hundehaltung liegt darin, beides zu vereinen: Die Freude am Zusammenleben mit unserem Vierbeiner UND die Verantwortung, die wir für seine artgerechte Entwicklung tragen.

Denn am Ende macht genau diese Balance das Zusammenleben mit unseren Hunden so besonders: Wir dürfen sie lieben wie ein Familienmitglied – müssen sie aber respektieren als das, was sie sind: Hunde.

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