Veränderungen des Gehirns beim Deprivationssyndrom: Ursachen, Auswirkungen und Lösungen

Inhaltsüberblick

Hunde, die in einer reizarmen Umgebung aufgewachsen sind, haben ein erhöhtes Risiko, ein sogenanntes Deprivationssyndrom zu entwickeln. Doch was genau passiert dabei im Gehirn dieser Hunde? Gibt es messbare Unterschiede zu Hunden, die in ihrer Welpenzeit gut sozialisiert wurden?

Veränderungen im Hundegehirn bei Deprivation

Studien zeigen, dass sowohl die Struktur als auch die Funktion des Gehirns bei Hunden mit Deprivationssyndrom signifikant verändert ist. Diese Hunde weisen eine deutlich geringere neuronale Vernetzung auf. Besonders in der wichtigen primären Sozialisationsphase, die von der 3. bis zur 12. Lebenswoche reicht, befindet sich das Gehirn eines Welpen in einem intensiven Umbauprozess. Das PuppyPlan Konzept von SIRIUS berücksichtigt diese Entwicklungsstufen im Rahmen der Welpenkurse.

Normalerweise begegnen die Welpen in dieser Zeit vielen neuen Reizen und Situationen. Sie setzten sich immer wieder mit unterschiedlichen Gefühlen, wie Freude im Spiel oder Frust auseinander, zum Beispiel weil ein Geschwisterchen einem das Spielzeug weggenommen hat.

Die Hirnentwicklung unter idealen Bedingungen

In einer anregenden Umgebung lernen Welpen, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und angemessen auf Stress zu reagieren. Der Alltag ist durchsetzt von positiven aber auch mal weniger schönen Überraschungen, jede Menge neuer Reize, auf die der kleine Hund angemessen reagieren lernt. Wenn die Hunde jedes Mal „total aus dem Häuschen“ sind, nur weil Besuch kommt oder sie ein neues Tier sehen, wäre der Alltag viel zu anstrengend. In der Natur sorgt normalerweise das Muttertier durch regelmäßige Umzüge (bis zu 7 Umzüge in den ersten 20 Wochen) dafür, dass die Umgebung sicher ist, aber auch mit immer mehr Reizen aufwartet.

Wichtig: Die Herausforderungen müssen gut zu bewältigen sein!

Die Kleinen werden auf diese Weise immer wieder Reizen ausgesetzt, die so stark sind, dass sie sie bewältigen und verarbeiten können, die sie aber nicht langfristig überfordern. Auch für den notwendigen Schlaf zur Verarbeitung sorgt das Muttertier durch viele Trinkpausen an den Zitzen und nachträgliche Ruhephasen.

Dies führt im Gehirn der jungen Welpen zu einer Ausbildung und Stärkung wichtiger neuronaler Verbindungen, sogenannter Synapsen, während unnötige Verbindungen gelöscht werden.

Das Deprivationssyndrom ist eine Entwicklungsstörung

Hunde, die jedoch in einer reizarmen Umgebung aufwachsen, aktivieren nur wenige, immer gleiche Synapsen, was zu einem übermäßigen Abbau von Nervenverbindungen führt. Während bei einer normalen Entwicklung in dieser Zeit ein Drittel der Nervenverbindungen gelöscht werden, sind es bei Hunden in der Deprivation deutlich mehr.

Das Resultat: Ein weniger flexibles Gehirn mit einer geringeren neuronalen Plastizität.

Emotionale Auswirkungen und Gehirnareale

Hunde mit Deprivationssyndrom haben oft Schwierigkeiten, neue Erfahrungen zu verarbeiten und angemessen auf neue Reize zu reagieren. Besonders betroffen sind für emotionale Verarbeitung wichtigen Gehirnregionen, wie die Amygdala und der Hippocampus. Diese Veränderungen erklären die extremen emotionalen Reaktionen und die hohe Stressanfälligkeit dieser Hunde.

Deutlich langsamere Verknüpfung von Nervenzellen

Es müssen erst mühsam neue Nervenverbindungen aufgebaut werden. Im Vergleich: Bei sich normal entwickelten Welpen bestehen diese Verbindungen bereits und müssen nur etwas verstärkt und reaktiviert werden.

In Folge müssen Welpen mit Sozialisierungs-Defiziten erst neu lernen, dass beispielsweise eine Mülltonne ungefährlich ist, da sie keine Referenzerfahrungen haben, auf die sie zurückgreifen können.

Zauberkraft der emotionalen Kompetenz

Ein junger Hund, der viel kennenlernen, sicher aufwachsen und das Erlernte immer wieder in ruhiger Umgebung verarbeiten durfte zeigt sich später auch bei Neuem bzw. bei unbekannten Reizen viel flexibler. Diese mentale Stärke nennt man auch emotionale Kompetenz.

Hunde, die beim Züchter nur in einem Zimmer aufgezogen wurden (z.B. Winterwürfe) oder Hunde, die in Zwingerhaltung bzw. nur im Innenhof aufwuchsen, haben häufig zu wenig Erfahrungen sammeln dürfen, was sich auch auf der Ebene der neuronalen Entwicklung spiegelt.

Sind Hunde vom Züchter deshalb unkomplizierter als Hunde aus dem Tierschutz?

In manchen Fällen haben Straßenhunde aus dem Tierschutz eine bessere, weil abwechslungsreichere Aufzucht erlebt als Hunde vom Züchter. Andererseits kann das Leben auf der Straße auch sehr unangenehme bis traumatische Erfahrungen bereiten. Dies und viele andere Faktoren nehmen Einfluss auf das Wesen der Hunde.
Unsere Praxis für Verhaltenstherapie zeigt: das Verhältnis von Hunden aus dem Tierschutz und Hunden vom Züchter ist 50/50. Es ist also bei Weitem keine Garantie, dass man „weiß, was man bekommt“, wenn man sich für einen Hund vom Züchter entscheidet.

Wenig Erfahrung führt zu Dauerstress im Alltag

Die Fehlentwicklung des Gehirns durch reizarme Aufzucht kostet später mehr Energie, erzeugt häufigen Stress beim kleinen Vierbeiner und bewirkt letztendlich eine geringere Flexibilität sowohl im Gehirn und damit auch im Verhalten des Hundes.

Dies hat auch Auswirkungen auf das Lernen neuer Verhaltensweisen, was diesen Hunden deutlich schwerer fällt. Hier kommen Hundebesitzer an den Punkt, an dem Ihnen Hundetrainer nicht mehr weiterhelfen. Ein guter Hundetrainer kennt seine Grenze und arbeitet mit Verhaltensmedizinern zusammen, um die Lernfähigkeit und Resilienz (= mentale Toleranz) zu unterstützen und eine bessere Prognose für ein gutes Therapieergebnis zu garantieren.

Die Chemie der Psyche – Impulskontrolle und Motivation
Oder: Warum kapiert mein Hund nicht, dass die Welt ihn nicht fressen will?

Neben den strukturellen Veränderungen im Gehirn gibt es auch signifikante Unterschiede in den Neurotransmitterspiegeln. Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die Signale zwischen Nervenzellen übertragen. Sie spielen eine zentrale Rolle in der Kommunikation im Nervensystem und sind essenziell für viele körperliche und geistige Funktionen. Es gibt 6 sehr wichtige Neurotransmitter beim Hund, diese sind Dopamin, Serotonin, GABA (Gamma-Aminobuttersäure), Acetylcholin, Glutamat und Noradrenalin. Bei Hunden mit Deprivationssyndrom wurden niedrigere Spiegel von Dopamin und Serotonin festgestellt.

  • Serotonin brauchen Hunde, um ihre Emotionen zu regulieren, also für eine ausgeglichene Stimmung und eine gute Impulskontrolle. Ein Mangel an Serotonin kann bei Hunden je nach Charaktertyp und Lerngeschichte zu verstärkter Aggression, Angstzuständen und Berührungsempfindlichkeit führen. Diese Hunde haben also Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu kontrollieren, wodurch ihr Verhalten deutlich impulsiver / „hyper“ ist.
  • Dopamin ist wichtig für das Wohlbefinden, die Motivation und das Lernen. Hunde mit niedrigen Dopaminspiegeln wirken oft zurückgezogen und haben Schwierigkeiten, Neues zu lernen, sei es ein neues Verhalten oder die Tatsache, dass eine Situation, ein Gegenstand oder ein Geräusch ungefährlich sind. Dies stellt für die Modifikation eines Verhaltens, das vom Besitzer unerwünscht ist, nicht die besten und einfachsten Vorrausetzungen dar.

 

Behandlungsmöglichkeiten und Prävention

Obwohl die Auswirkungen des Deprivationssyndroms weitreichend sind, zeigen Studien, dass das Management der Neurotransmitterspiegel durch richtige Ernährung, Stressreduktion und Verhaltenstherapie einige der negativen Auswirkungen des Deprivationssyndroms bei Hunden lindern kann. Eine Ernährung, die reich an Vorläufern dieser Neurotransmitter ist, wie beispielsweise Tryptophan für Serotonin, sowie positives Verstärkungstraining können das Wohlbefinden und Verhalten der betroffenen Hunde deutlich verbessern.

Je nach Ausprägung des Deprivationssyndroms des Hundes können Nahrungsergänzungsmittel allein aber nicht ausreichend sein, um wirkliche Veränderungen zu erzeugen. Ein Tierarzt für Verhaltensmedizin und -therapie kann all diese Bereiche zusammen betrachten und unterstützt in der Fachsprechstunde auf vielen Ebenen die positive Entwicklung des Tieres.

Fazit: Verständnis und Unterstützung für betroffene Hunde

Das Deprivationssyndrom ist mehr als nur ein Verhaltensthema. Es ist eine tiefgreifende neurobiologische Veränderung, die betroffene Hunde daran hindert, angemessen auf neue Reize zu reagieren. Diese Hunde brauchen Verständnis und gezielte Unterstützung, um ihr volles Potenzial zu entfalten und ein glückliches Leben zu führen.

Quellen

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